Höllengeier über dem Kreaturenband

Wieder hat es etwas länger gedauert, bis sich der neuste Band des Der Herr der Ringe-Rollenspiels in der Letzten Heimeligen Höhle im Feurigen Berg eingefunden hat. Aber für all das entschädigt uns das tolle Titelbild: ein majestätischer Höllengeier schwebt über der Kulisse des fachkundig zerbombten Osgiliath, und der Ringgeist auf seinem Rücken verkommt fast zur Unwichtigkeit. Davor steht ein lecker kleiner Hobbit, den wir gleich genüsslich... was ist? Minderjährige hier? Na und? Ach so... Also wie auch immer: ein wunderschönes Titelbild! Können wir davon ein großes Poster für die Heimelige Höhle haben?

Der Inhalt des Buches? Wen interessiert bei einem solchen Titelbild noch der Inhalt? Wie meinen der Herr Archivgeier? Immer diese Ablenkungen... Also gut dann: Das Buch hat eine Einleitung und vier Kapitel. Das erste befasst sich mit wilden Bestien, das zweite mit gemeinen Tieren, das dritte mit dem Einsatz von Kreaturen im Spiel sowie dem Entwurf eigener Kreaturen und das vierte, ein klein wenig inhaltlich und vom Umfang her unpassend, mit magischen Gegenständen. Zufrieden? Können wir jetzt wieder das Poster ansehen? Was soll dss heißen: Es gibt das Poster noch nicht? Grummel...

Während wir auf das Poster warten, können wir uns auch gleich das Buch ansehen. Die Einleitung also führt eine Reihe von neuen Regelmechanismen ein sowie erläutert andere. Besonders wichtig ist die Einführung einer umfassenden Größenklassentabelle sowie der "Zw-Entsprechung", die als eine Art Erfahrungspunkteersatz im Kampf dient. Angeblich seien die Erfahrungspunkte für das Erreichen eines Zw im Kampf immer nur für einen einzigen Wurf gedacht gewesen, und zur Vereinfachung gibt es nun einen festen Satz von Punkten pro Wesen, beispielsweise 25 für einen Geflügelten Drachen oder 35 für einen der minderen Nazgul. Da würde sich ja der Aufwand kaum lohnen...und dass ein Höllengeier gerade einmal 10 EP wert ist, ist ein Skandal! Dafür ist ein Höllengeier "ungeheuer" groß, und das versöhnt doch wieder...

Im ersten Kapitel findet sich dann alles, was übernatürlich ist, in den Romanen vorkommt und als Gegner eingesetzt werden kann. Der aufmerksame Archivgeier findet das folgende (die Reihenfolge entstammt dem englischen Original, da unsere Übersetzersklaven noch an der Arbeit sind): Balrogs (erstaunlicherweise in drei Gruppen: "niedere", "typische" und "größere" - was wohl ein "typischer" Balrog sein könnte, wo es doch nur einen im Dritten Zeitalter gibt?); Grabunholde (ohne Abstufungen, wie es noch beim seligen MERS der Fall war); Schwarze Pferde (diesmal korrekt mit ihrem Rohan-Ursprung in Verbindung gebracht); Dämonen (darunter der Geist des Caradhras); Drachen (Kalt-Drachen und Geflügelte Drachen; der Archivgeier stellt voller Freude fest, dass eine vor langer Zeit im Decipher-Forum gestellte Frage nach den Spieldaten für Standard-Drachen nun endlich beantwortet ist); Ents (der Supportbalrog behauptet zwar, man könne diese kaum als "Wilde Bestien" - so ist, wie aus normalerweise gut unterrichteten Quellen zu erfahren, der deutsche Titel dieses Kapitels - bezeichnen, doch Saruman hat ihm sofort vehement widersprochen); Geister (die, vor denen Elben keine Angst haben); Riesenspinnen (siehe Regelwerk); Halborks (nun mit Geschichte); HÖLLENGEIER (leider ohne Abstufungen, allerdings mit einigen eher absonderlichen Ideen, auf die wir weiter unten noch eingehen); Huorns; Kraken; Nazgûl (ein viel längerer Eintrag als für Höllengeieer; wie unfair!); Olifanten; Orks (sinnloses Gewürm); Meereskraken; Kankras Gezücht; Trolle; Uruk-hai; Vampire; Warge; und Werwölfe. Alle Einträge weisen eine ähnliche Form auf: dem Spieldatenblock folgt ein Beschreibungsteil, der sich mit einer Darstellung des Erscheinungsbildes, der Geschichte der Kreatur, ihrem Lebensraum, ihrer Gesellschaftsform und ihrer Verwendung im Spiel befasst. Das ist alles sehr nützlich, auch wenn manche Einträge eher kurz sind (wer interessiert sich auch schon wirklich für die Gesellschaft der Kraken?).

Beschweren müssen wir uns aber klar und deutlich über die Behandlung der glorreichen Höllengeier. Offensichtlich dachte man sich bei Decipher, dass es genügt, einen von uns auf dem Titelbild posterwürdig abzubilden und uns dann einfach kaltzustellen. So nicht! Schauen wir uns das Trauerspiel an: gerade einmal eine Seite, und noch nicht eimal ein Filmbild (doch immerhin eine Farbzeichnung, die allerdings wenig mit der Realität zu tun hat: ein Ringgeist, der mit einer großen Kette [!] den Höllengeier lenkt - also bitte!). Wie schon erwähnt, ist die Zw-Entsprechung von 10 keinesfalls der Bedeutung der Höllengeier in der Geschichte Mittelerdes angemessen. Unsere einzige Sonderfähigkeit sei die, dass wir stänken; zwar beeinträchtigt dies gerechter Weise unsere Gegner im Kampf, aber ein wenig freundlicher hätte man das schon formulieren können. Immerhin weiß der Text, dass wir sehr soziale Wesen und ausgesprochen intelligent sind (und dass uns Beute unter Hobbitgröße nicht interessiert; da hat jemand aufgepasst!). Interessant ist natürlich die These, dass es im südlichen Düsterwald sowqie in den Aschenbergen sehr viele von uns gäbe; insofern scheinen die Gerüchte von einer Ersatzbank doch nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein. Der Archivgeier wird weiter berichten; vielleicht können ja tatsächlich weitere Höllengeier der staunenden Öffentlichkeit vorgestellt werden?. Wirklich verdammenswert (und nicht im Mindesten den Tatsachen entsprechend) sind Gerüchte über sogenannte "Höllengeierreiter", wie sie im Decipher-Forum verbreitet werden. Derlei ist unerträglich und sollte verboten werden! Tod den Höllengeierreitern! Fresst sie alle auf! Äh...

Während sich der Alpha beruhigt, kommen wir doch lieber zum Kapitel über Tiere (Tiere interessieren den Alpha ohnhin nicht, also entsteht hier kein Schaden). Tiere sind weitaus schwächere Gegner als Bestien (wer hätt's gedacht) und verfügen deshalb auch über keine Zw-Entsprechung. Es findet sich so ziemlich alles, was man braucht, und auch einiges, was nicht ganz so spannend ist (Dachse [machen immerhin genau so viel Schaden wie ein ordentlicher Tritt], Bienenschwärme, Füchse, Eichhörnchen...). Das meiste ist aber sehr nützlich und hilft Erzählerinnen sehr weiter, wenn es um das Bevölkern von Abenteuern mit normalen Tieren geht (das Grundregelwerk war ja da etwas... knapp). Dass Katzen nur einen Punkt Schaden machen, halten wir aber für ein Gerücht.

Im dritten Kapitel finden wir in erster Linie ein System zum Erschaffen eigener Kreaturen. Dies ist, wie vom bisherigen Stil des Spiel zu erwarten war, ein Baukastensystem, mit dessen Hilfe man eigene Kreaturen nach Belieben zusammen stellen kann. Mit den hier zu findenen Angaben ist es möglich, sowohl normale Tiere als auch wilde Bestien zu erschaffen (z.B. gibt es 30 Besondere Fähigkeiten, darunter Körperlosigkeit, Trampeln und Attributsentzug), und letztlich finden sich sogar Angaben, wie für eigene Kreaturen eine passende Zw-Entsprechung gefunden werden kann. An diesem Kapitel werden kreative Erzählereinnen viel Freude haben.

Und schon sind wir auf Seite 82 des 96-seitigen Buches. Nun beginnt der Teil über "Wundersame Magie", der sich nicht nur mit magischen Gegenständen befasst, sondern eher eine Art "magischen Sammelsuriums" darstellt. Es gibt ein paar Gegenstände aus diversen Kategorien (Rüstung, Ringe, Stäbe, Waffen und Sonstiges); zwischendrin verbirgt sich eine gänzlich neue Berufungsfähigkeit für Zauberer (Stab der Macht), die schon im Gefährten-Quellenband als bekannt vorausgesetzt wurde und den Archivgeier beim Lektorat der Übersetzung ohne Ende verwirrte. Diese Fähigkeit geht weit über das hinaus, was die Berufungsfähigkeit Stab einem Zauberer ermöglicht; da als Voraussetzungen Stab, Zaubermacht und Zaubern für Zauberer benötigt wird, haben Zauberer unter den Charakteren wohl bislang noch nicht viel verpasst.

Glücklicherweise ist der Wiederholungsgehalt dieses Kapitels im Vergelich zu früheren Bänden erfreulich niedrig (es finden sich zwar erneute Anmerkungen zu den Niederen Ringen, aber nicht zum dritten Mal der Eine Ring), und vieles ist wirklich neu und nützlich (na gut, Aiglos, Glamdring, Stich und Orcrist tauchen schon wieder auf, dafür aber auch der Streitkolben des Hexenkönigs, Herugrim und sogar Grond). Unter "Sonstiges" finden wir eine ... interessante Mischung aus Altem und Neuem. Der Arkenstein steht Seite an Seite mit Galadriels Spiegel, Orthanc-Feuer und Orkschnapps sowie dem Wasser aus dem Düsterwald. Das Kapitel zu magischen Gegenständen wirkt allgemein ein wenig knapp und unsortiert, gleichsam dem Band aufgepropft, aber man findet doch einiges, das man nutzen kann.

Fazit: Nicht alles in diesem Buch ist wirklich nützlich, aber doch fast alles. Manche der Kreatureneinträge sind eher sinnlos (wer braucht schon Spieldaten für den Geist von Caradhras oder die grausamen Schwarzen Killereichhörnchen des Düsterwaldes, auch wenn sie eine gute alte D&D-Tradition weiterführen?), aber die Palette der im Spiel einsetzbaren Kreaturen hat sich gleichsam explosionsartig vermehrt, und selbst der Grummelgeier kann sich kaum eine Erzählerin vorstellen, die mit diesem Band nicht gut bedient wäre. Und deshalb würden auch neun von neun Höllengeiern dieses Produkt kaufen (auch wenn die vielfältige Kultur der Höllengeier nur im Ansatz angerissen wurde - aber wofür gibt es Errata?).

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